Im Tal in den Bergen gibt es keinen Horizont. Und auch wenn der Blick vom Gipfel bei Sonnenschein unendlich weit reicht, sieht man den Horizont nicht. Die Berge sind die Grenze, die verhindert, dass Ende der Welt zu sehen. Für Carly eine Begrenzung, die sie bei jedem Besuch oder auch nur auf der Durchreise in sich hineinhorchen und immer einen Widerstand spüren lässt. Ein Gefühl von Enge statt Weite, von Einschränkung statt Freiheit, das trotz der atemberaubenden Aussicht den Impuls von Flucht statt Entspannung auslöst.
Ganz anders ist es auf See. Da sieht man den Horizont, dort geht die Sonne auf und unter, dort trifft der Himmel auf das Wasser, dort verschmelzen die Blautöne zu einem silbern fast weißlichen Streifen, der markiert wo man hingehen könnte, wenn es denn ein Ende gäbe. Für Carly gleicht dieser Anblick einer Einladung, sich auf die Suche zu machen, unterwegs zu sein, ein Ziel zu verfolgen und nicht aufzugeben. Denn er ist ja da, dieser Horizont.
An Bord ihres Schiffes hat Carly mit ganz anderen Grenzen zu tun. Mit Landesgrenzen zum Beispiel, die ja bekanntlich dafür sorgen, dass sowohl die Amtssprache, wie auch die Währung, das Handynetz und die Einreisebestimmungen sich so sehr unterscheiden, dass es ohne Checkliste schwerfällt, den Überblick zu behalten und dass ohne ausgeschaltetem Daten-Roaming, die Mobilfunkrechnung durch absurde Werte den Lerneffekt erhöhen kann, dass die Türkei eben KEIN EU-Mitgliedsstaat ist…
Mit ihren eigenen Grenzen hat sie ebenfalls zu tun. An die kommt sie oft, wenn berufliche und private Sorgen sich abwechseln oder weniger charmant gleichzeitig auftürmen und kaum beseitigen lassen wollen. Genauso auch mit den räumlichen Grenzen, die praktisch nicht vorhanden sind, da sich viele Menschen auf kleinstem Raum den Arbeitsplatz, den Lebensmittelpunkt und das Urlaubs-Ressort teilen. Umso hoch geschätzter werden die eigenen vier Wände und die geschlossene Kabinentüre, die dem begrenzten Privatleben den nötigen Raum geben. Begrenzten Raum, aber eben den eigenen. Hinter den eigenen Grenzen, abgegrenzt zur Außenwelt.
Für Carly eine grenzenlose Oase. Mit Blick auf den Horizont.
Und mit der Einladung, sich auf den Weg zu machen die bestehenden Grenzen zu durchbrechen und hinter sich zu lassen.

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Kommentare
Ein unglaublich schöner Text, der die Gegensätze zwischen Grenzen und Horizonten, Enge und Weite perfekt einfängt. Besonders der letzte Abschnitt hat mich berührt – die Kabine als Rückzugsort, der Horizont als Einladung. Kann ich als Seefahrerin genau so unterschreiben :D